Wenn Tastaturschreiben der Handschrift gleichgestellt wird

Derzeit macht grad die Nachricht die Runde, dass im finnischen Lehrplan das Tastaturschreiben die Handschrift ersetzt, ablöst, verdrängt, ergänzt. !? Was jetzt genau?

Gar nicht so einfach das herauszufinden. silicon.de berichtet:

Finnland verabschiedet sich von der Handschrift

01.12.2014 13:57 Uhr von Martin Schindler

Maschinenschreiben und Texting wird ab 2016 auf dem Lehrplan finnischer Grundschulen das Schreiben mit der Hand ablösen.

Finnland will Handschrift aus dem Curriculum streichen. (Bild: Shutterstock) Flüssiges Maschinenschreiben ist eine wichtige Kultur-Technik, die jedes Kind beherrschen sollte. Diese Ansicht vertritt Minna Harmanen, Mitarbeiterin im finnischen Kultusministerium. Daher wird in dem Lehrplan für finnische Grundschulen ab Herbst 2016 “Handschrift” nicht mehr zwingend vorgeschrieben sein.

Die Kinder müssen dann nicht mehr zwingend Kalligraphieübungen absolvieren und auch keine zusammenhängende Handschrift mehr erlernen.

Statt dessen sollen die finnischen Kinder in der Verwendung von Tastaturen und im ‘Texting’ geschult werden, wie das finnische Blatt Savon Sanomat berichtet. Damit sollen auch diejenigen Kinder diese Fertigkeit erlernen können, die im Elternhaus keinen Zugriff auf solche Geräte hätten.

Interessant, aber nun soll man sich ja nie auf nur eine Quelle verlassen, bevor man eine Nachricht weitergibt. Da müssten doch schon andere Medien darüber berichtet haben. Bisher auf deutsch: Fehlanzeige. Und silicon.de ist mir bisher noch nie begegnet, eignet sich also nicht als einzige Quelle des Vertrauens. Also rufen wir den finnischen Originalbericht auf.

Dumm nur, dass der finnisch ist. Google Translate hilft auch nur beschränkt weiter:

handschrift01.jpg

Social media und native speakern sei dank (Danke!) meine ich nun, folgendes herausgefunden zu haben:

Im Lehrplan der finnischen Primarschule/Grundschule wird ab Herbst 2016 das Obligatorium für die zusammenhängende Handschrift ("Schnüerlischrift") abgeschafft, die Basisschrift wird weiterhin erwähnt, daneben aber die zunehmende Bedeutung des Schreibens mit dem Computer betont. Letztendlich - wie meistens in Finnland - entscheiden die Lehrpersonen, was genau im Unterricht geschieht.

Hoho, ein mutiger Schritt denken nun wahrscheinlich viele und sind unterschiedlicher Meinung ob das mutig nun weise oder dumm bedeutet. Aber typisch finnisch, denn seit PISA muss man ja nach Finnland gucken um zu wissen, was gute Schule ist…

Für einmal muss man jedoch nicht nach Finnland gehen, um solche Veränderungen zu finden. Es reicht ein Blick in den Kanton Schwyz. Dort hat der Erziehungsrat…

… anlässlich seiner Sitzung vom 30. November 2012 beschlossen, das Tastaturschreiben ab der 4. Klasse der Primarstufe einzuführen (ERB vom 30. Nov. 2012 PDF). Das Tastaturschreiben (10-Finger-System) soll künftig im Sinne eines individuellen Lehrgangs im Rahmen von offenen Unterrichtsformen mittels geeigneter Tastaturschreib-Lernprogramme systematisch gelernt werden. Fürs Erlernen des Tastaturschreibens wird also kein eigenes Fach konzipiert, sondern Zeitgefässe (ca. 10-15 Min. pro Woche) in anderen Fächern, insbesondere im Deutschunterricht, zur Verfügung gestellt. Zusätzlich haben die Schülerinnen und Schüler die Möglichkeit, das Tastaturschreiben auch zuhause am Computer zu üben. Zugleich soll den Schülerinnen und Schülern vermehrt die Möglichkeit gegeben werden, Texte (z.B. im Deutschunterricht) am Computer zu schreiben, um das Zehnfinger-Tastaturschreiben anwenden zu können.
Am Ende der 6. Klasse sollen die Schülerinnen und Schüler fähig sein, einen unbekannten zusammenhängenden Text mit mindestens 500 Anschlägen (50 Anschläge pro Minute) in 10 Minuten am Computer einzugeben und auszudrucken, ohne dabei mehr als drei Fehler zu machen.
Quelle: www.sz.ch

An seiner Sitzung vom 10.06.2014 hat der Schwyzer Erziehungsrat nun auch die Umsetzung beschlossen. Dort steht:

Aufgrund der Empfehlungen aus dem Schulversuch von 2007-2009 werden die Leistungen im Tastaturschreiben benotet und mit 50% in die Schriftnote eingerechnet.
Quelle: www.sz.ch

Mindestens notenmässig ist damit die *Handschrift (Biblionetz:w02259) dem Schreiben mit dem Computer (Biblionetz:w01911) gleichgestellt.*

Das wird noch hohe Wellen werfen, denn gemäss meiner Erfahrung ist die Handschrift ein hoch emotionales Thema.

Ich bin innerlich gespalten, ob ich das Vorgehen des Kantons Schwyz positiv oder negativ sehe (obwohl ich am Entscheid nicht unbeteiligt war als Mitautor der ICT-Strategie des Kantons Schwyz (Biblionetz:t14412)).

Schreiben mit dem Computer bietet zahlreiche Potenziale:
  • Biblionetz:a00673 Der Computer kann das Lesen- und Schreibenlernen fördern.
  • Biblionetz:a00732 Schreiben am Computer erleichtert die Überarbeitung von Texten
  • Biblionetz:a00740 Schreiben am Computer erleichtert die Veröffentlichung der eigenen Arbeit
  • Biblionetz:a01138 Schülerinnen und Schüler schreiben am Computer längere Texte als von Hand
  • Biblionetz:a01139 Schreiben am Computer kann die Schreibmotivation fördern.
  • Biblionetz:a01169 Schreiben am Computer vereinfacht das gemeinsame Erarbeiten von Texten

Abgesehen von diesen Potenzialen geht es auch schlicht um die Lebenswelt von Schülerinnen und Schülern: Da ist das Schreiben am Computer zunehmend relevant und das Schreiben von Hand verliert an Bedeutung. (Man beachte: "verliert an Bedeutung" und nicht "ist unwichtig". Weder Finnland noch der Kanton Schwyz schafft die Handschrift ab. Also bitte nicht in Weltuntergangsstimmung verfallen…

Beim Erlernen des 10-Fingersystems auf heutigen Tastaturen frage ich mich jedoch, ob wir nicht gleich wieder einen Murks produzieren. Seymour Papert (Biblionetz:p00192) spricht 1982 in seinem Buch Mindstorms (Biblionetz:b00130) explizit vom QUERTZ-Phänomen:

Das erste brauchbare, wenn auch noch primitive Produkt einer neuen Technologie hat die Tendenz, sich ferstzusetzen. Ich habe dieses Phänomen das QWERTZ-Phänomen genannt.
Die oberste Reihe einer Standardschreibmaschine zeigt die Buchstabenfolge QWERTZ. Für mich ist dies ein Symbol dafür, dafi die Technik allzuoft nicht dem Fortschritt dient, sondern dafür sorgt, das an Altem festgehalten wird. Fur die QWERTZ-Anordnung gibt es keine rationale Erklärung, lediglich eine historische. Sie wurde als Lösung eines Problems aus der ersten Zeit der Schreibmaschine eingeführt: Die Tasten verklemmten sich des öfteren. Dieses Problem sollte dadurch minimalisiert werden, dass die Tasten, die häufig nacheinander gebraucht werden, getrennt wurden. Ein paar Jahre später beseitigte der allgemeine Fortschritt in der Technik das Problem des Verklemmens, aber QWERTZ blieb. Einmal angenommen, zog die Anordnung Millionen von Schreibmaschinen und eine Methode (sogar ein Curriculum) des Tippenlernens nach sich. Die sozialen Kosten einer Veränderung (z. B. eine Anordnung, bei der die meistbenutzten Tasten auf der Tastatur zusammen liegen) stiegen mit dem persönlichen Interesse an der alten Anordnung, das entstand, weil immer mehr Finger gelernt hatten, der QWERTZ-Tastatur zu folgen. QWERTZ ist geblieben, obwohl es andere, «vernünftigere» Systeme gibt.
Biblionetz:t17008

Klar, bereits 1982 sagte Klaus Haefner (Biblionetz:p00188) das baldige Ende der Tastatur aufgrund von Spracherkennung (Biblionetz:w02442) voraus und bis heute ist noch nicht viel davon zu sehen. Aber trotzdem: Ist es zukunftsgerichtet, die QUERTZ-Anordnung in die Lehrpläne aufzunehmen? Schreiben am Computer ist ja nicht das Gleiche wie Tastaturschreiben.

Ich finde es begrüssenswert, dass neben der Handschrift noch andere Arten des Schreibens Eingang in den Lehrplan finden. Ob das 10-Fingersystem die richtige Antwort ist, bezweifle ich wie die Strategie des Schweizer Buchzentrums, aufgrund des Umsatzrückgangs bei Büchern nun vermehrt auf den Verkauf von DVDs zu setzen (Biblionetz:t17344).

Ach seufz, dieser Leitmedienwechsel (Biblionetz:w02306).

P.S. Nochmals der Hinweis für Kulturpessimisten: Weder in Finnland noch im Kanton Schwyz soll die Handschrift abgeschafft werden.

P.S.2: Für die deutsche Sprache gibt es mindestens zwei optimierte Tastaturlayouts:

 
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