Gerangel im Schweizer E-Schulbuch-Markt? (mit Update)

Gestern (24.06.12) ist in der Sonntagszeitung der Artikel Gerangel im E-Book-Markt für Schweizer Schulbücher (Biblionetz:t14089) erschienen. Da ich gestern und heute mehrfach auf den Artikel angesprochen worden bin, hier einige Überlegungen aus meiner Perspektive.

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Der Artikel versucht in Kürze die aktuelle Situation auf dem Schweizer Lehrmittelmarkt zu beschreiben. Ich beschäftige mich nun auch schon seit zwei Jahren mit digitalen Lehrmitteln in der Schweiz. Trotzdem würde es mir nicht gelingen, auf so kleinem Raum die Situation allgemein verständlich und ohne sinnverkehrende Verkürzungen zu beschreiben. Ich habe den Verdacht, dass es dem Artikel auch nicht so ganz gelingt.

eBooks, eLehrmittel, Apps, digitale Lehrmittel, elektronische Lehrmittel ?

Der Artikel verwendet verschiedenste Bezeichnungen für Lehrmittel, die nicht in Papierform vertrieben werden, erklärt aber mit einer Ausnahme nicht, was damit gemeint ist:

Die Nase vorn haben private Verlage, die Produkte für die Stufe Sek 2 herstellen, etwa der Zürcher Verlag Compendio oder Hep in Bern. Sie bieten elektronische Lehrmittel und Apps an, Hep auch ein iBook und ab Sommer ein erstes «E-Lehrmittel» , das ganz digital fürs iPad oder Windows/Mac ist.

In der Volksschule ist der Anteil an digitalen Lehrmitteln geringer: Es existieren einige «enhanced E-Books», also digitale Ergänzungen und Apps zu gedruckten Lehrbüchern.

Hier werden sowohl Produkte beschrieben, welche Lehrmittel auf Papier ersetzen als auch ergänzen sollen. Solche die praktisch ein Abbild des Papierexemplars sein werden und solche die massiv mehr oder andere Funktionen und Inhalte anbieten werden (multimediale und interaktive Inhalte, die ein Papierlehrmittel nicht bieten kann).

Eine zentrale Lösung?

Bereits hier ist die Forderung

Dabei wäre eine zentrale Lösung dringend nötig, wenn E-Lehrmittel kundenfreundlich werden sollen.

schwierig zu erfüllen. Auch sonst ist mir dieser Satz nicht sehr geheuer:

  • "Kundenfreundlich?" Wer ist denn der Kunde? Die Person, die das Lehrmittel nutzt (Lehrperson, SchülerIn?) oder die Person oder Organisation die das Lehrmittel bezahlt (je nach Schulstufe und Kanton ist dies der Kanton, die Gemeinde, die Eltern oder die Lernenden). Auch das zeigt, dass sich vermutlich keine einheitliche Lösung finden lässt, solange Lehrmittel so unterschiedlich finanziert werden.

  • Ist für Usability wirklich "eine zentrale Lösung" notwendig oder wären es nicht eher offene Standards? Damit nicht jedes Lehrmittel anders bezahlt, bezogen und gehandhabt werden muss, ist nicht zwingend eine zentrale Verkaufsstelle notwendig. Sondern es wären offene Standards notwendig, die das Handling in sinnvoller Art und Weise regeln.
    Das Internet (von Facebook mal abgesehen…) kommt auch nicht aus einer Hand, aber es funktioniert recht gut, weil sich die meisten Anbieter nicht nur an technische Standards halten, sondern auch an geschriebene und ungeschriebene Usability-Standards).

educa.ch ?

Im Artikel wird educa.ch als Alternative zu einer neuen Plattform ins Spiel gebracht:

Als weitere Alternative steht das Schweizer Medieninstitut für Bildung und Kultur Educa.ch zur Diskussion. Es betreibt den schweizerischen Bildungsserver, den 90 Prozent der Schweizer Schulen nutzen. «Es stellt sich die Frage, ob es neben dem Bildungsserver, den die Kantone bereits teuer bezahlen, noch eine zweite Schweizer Plattform braucht», sagt Peter Uhr, Geschäftsleiter des Schulverlags Plus.

Hier übersieht der Artikel das Potenzial heutiger Informatiklösungen, die durch standardisierten Datenaustausch auch nicht zentralisierte Lösungen ermöglicht. So wie man heute sein Facebook-Konto oder Google-Konto auch zum Anmelden bei gewissen Webdiensten anderer Unternehmen nutzen kann, so lässt sich das bestehende educanet2-Konto heute theoretisch unter dem Namen educa-ID als Login für andere Dienste nutzen (wenn diese das erlauben). Es wäre somit denkbar, eine Schweizer Lehrmittel-Plattform aufzubauen, die keine eigene Userverwaltung aufbauen, sondern diejenige von educanet2 nutzen würde.

Dann würde der Passus "den Schweizerische Bildungsserver, den 90 Prozent der Schweizer Schulen nutzen." relevant.

Doch was ist mit den 90% gemeint? Geht es um die Informationsplattform educa.ch oder geht es um die Lernplattform http://educanet2.ch (Biblionetz:w01711) ?

Das Institut für Medien und Schule (IMS) hat im Auftrag von BBT und EDK im Mai 2011 eine gross angelegte Online-Umfrage zu educa.ch PDF-Dokument (Biblionetz:t13957) durchgeführt. Aus der Zusammenfassung:

Ein überraschendes Ergebnis der Umfrage ist, dass die meisten Angebote des Schweizerischen Bildungsservers einem grossen Teil der Befragten unbekannt sind. Nur 63% der befragten Personen kennen das Informationsportal www.educa.ch und nur 39% nutzen es zumindest gelegentlich. Verbreitet sind vor allem die Möglichkeiten zum Austausch von Unterrichtsmaterialien. Der Bekanntheitsgrad und die Nutzung vieler anderer Angebote des Bildungsservers ist beträchtlich geringer. Eine Ausnahme bildet allerdings die Lernplattform educanet². Sie ist 78% der befragten Personen ein Begriff und wird von 53% zumindest gelegentlich genutzt.

Wahrscheinlich scheint mir, dass die 90% aus folgendem Zitat stammen:

Im Mittel machen 48% der Schweizer Schulen Gebrauch von einer solchen Lernplattform (vgl. Abbildung 18). Die Nutzungsquote ist auf Volksschulstufe in der Romandie deutlich höher als in der Deutschschweiz. Unter den Schulen, die eine Plattform verwenden, nutzen 91,7% educanet2, die Lernplattform des schweizerischen Bildungsservers. 4,8% verwenden Moodle, 3,2% BSCW, 1,6% Ilias, 0,7% Claroline und 8,3% machen von anderen Plattformen Gebrauch (Mehrfachnennungen möglich).
Quelle: Barras, J-L. & Petko, D. Computer und Internet in Schweizer Schulen, Bestandsaufnahme und Entwicklung von 2001 bis 2007 (Biblionetz:t07870)

Ja, 91.7% der Schulen, die eine Lernplattform nutzen, nutzen educanet2. Aber nur 48% der Schweizer Schulen nutzten 2007 eine Lernplattform…

Apples Kulanz?

Ein weiterer Punkt im Artikel, auf den ich heute mehrfach angesprochen worden bin, ist die Haltung von Apple gegenüber Lehrmittelverlagen beziehungsweise Schulen und Lernenden:

In den Verhandlungen zeige sich der Konzern kulant. Die Verleger berichten von Spezialabkommen: So müssen Apps für Schulklassen nicht über den App-Store gekauft werden, weil Schüler keinen Kreditkarten-Account haben; Apple zwacke dann auch nicht die gewohnten 30 Prozent pro iBook oder App ab, was die Verlage zu schätzen wissen.

Mir wäre nichts über derartige Sonderkonditionen bekannt, ich lasse mich aber gerne eines Besseren belehren….

Sicher ist?

Für den Artikel ist zum Schluss eines klar:

Sicher ist, dass eine zentrale Plattform für deutschsprachige digitale Lernressourcen nötig ist. Für Schulen hätte sie den Vorteil, dass es für die Bücherbestellung eine Anlaufstelle gäbe; und Schüler müssten sich nicht mehr - wie das heute der Fall ist - für die Nutzung eines E-Lehrbuchs bei jedem Verlag einzeln online identifizieren.

Ich habe bereits weiter oben beschrieben, dass ein einziger Zugang (single sign-on) heute nicht mehr zwingend einer zentralen Plattform bedarf, wo auch die Inhalte liegen. Aber auch sonst ist für mich die Situation keineswegs so klar, wie es im Artikel den Anschein macht.

Zumindest in meinem Kopf herrscht statt Gerangel weiterhin eher Unklarheit im Schweizer E-Schulbuch-Markt und es scheint noch einiger Klärungen zu bedürfen.

Siehe auch:

Update vom 4.07.2012

Nachträge zum Artikel

Simone Luchetta, die Autorin des oben besprochenen Artikels hat auf ihrem Weblog zwei Postings zum Artikel veröffentlicht. Im ersten schreibt sie:

Im Rahmen der Geschichte über die Plattform für digitale Lehrmittel in der SonntagsZeitung vom 24. Juni 2012 habe ich viel mehr Informationen zusammengetragen, also ich schliesslich im Blatt verwenden konnte. mehr...

Diese Informationen sind sehr spannend, geht es doch um die Idee von Open Educational Ressources (OER) (Biblionetz:w02058) und creative commons (Biblionetz:w01755). Daneben beschreibt Luchetta ihren Eindruck, dass das Schweizerische Buchzentrum mauere und sich abschotte. Dies sei aber die falsche Haltung, um im Netz Erfolg zu haben.

Im zweiten Posting reagiert Simone Luchetta auf diesen Blogbeitrag von mir. Ich erlaube mir, ihn der Einfachheit halber ganz wiederzugeben:

Prof. Dr Beat Döbeli Honegger, Dozent für Medienbildung und Informatikdidaktik an der pädagogischen Hochschule Zentralschweiz hat sich in seinem Wiki zu meinem Artikel vom letzten Sonntag "Gerangel im E-Book-Markt für Schweizer Schulbücher" über die geplante Plattform für digitale Lehrmittel geäussert. Vielen Dank für die Ergänzungen. Ich möchte dazu einen kurzen Kommentar schreiben (den ich hier publiziere, da ich mich dafür auf seinem Wiki - zu Recht - hätte registrieren müssen, was ich im Moment aber nicht will):

Sehr geehrter Herr Döbeli, eine interessante Ergänzung zu meinem Artikel. In der Tat kämpfen wir JournalistInnen immer wieder damit, dass wir auf wenig Platz relativ komplexe Sachverhalte Leser-gerecht aufbereiten müssen - was nicht immer gleich gut gelingt. Wir können keine Abhandlungen schreiben - dafür gibnt es keinen Platz und kaum LeserInnen. Vielleicht können Sie es (wie gewisse meiner Gesprächspartner) positiv sehen, dass es das Thema "digitale Lehrmittel" in die Publikumspresse gebracht hat. Und ist es nicht auch erfreulich, dass Sie sogar noch etwas Neues erfahren haben (Apple zeigt sich kulant)?. Es tut mir leid, dass mir vor dem Artikel nicht bekannt war, dass Sie sich seit zwei Jahren mit genau diesem Thema auseinandersetzen (ich wusste zwar, dass sie beim hep-Verlag im VR sind). Ich werde mich aber beim nächsten Mal vorher gerne auch an Sie wenden, wenn Sie erlauben. Denn sicher ist: Die Unklarheiten scheinen noch einiger Klärungen zu bedürfen, wie sie selbst schreiben. Sicher auch in Form von Artikeln. Simone Luchetta



 
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