Preaching to the converted & Repeating history

Ich leide seit ein paar Wochen an einem Tagungsüberdruss (vielleicht liegt es aber auch nur daran, dass ich älter werde…). Monat für Monat, wenn nicht Woche für Woche pilgert die Community von einem Ort zum andern, belagert Konferenzsääle und -buffets und bespricht die ewig gleichen Fragen (in meinem Fall: "Wie geht die (Hoch-)Schule mit der aufkommenden Informationsgesellschaft um?")

Jede zweite Rede beginnt mit dem Standardsatz: "Wir leben in einer Informationsgesellschaft..." und geht weiter mit
  • "... xy% der Kinder und Jugendlichen besitzen bereits ein Z"
  • "... und Google liefert zum Begriff x heute yz Treffer, dies zeigt..."
  • "... und lebenslanges Lernen ist eine Voraussetzung zur Erhaltung von Schlüsselkomeptenzen ..."

Bereits verbreitet sich unter den online vernetzten digital natives im Publikum das Buzzword-Bingo, bei dem es darum geht, in der aktuellen Präsentation die nebulösen aber omnipräsenten Schlüsselwörter zu erkennen und auf einer Matrix abzustreichen und beim erfolgreichen Streichen einer ganzen Zeile oder Spalte laut "BINGO" in den (den Veranstaltern nicht bewussten) Chat zur Veranstaltung zu rufen.

Neben einer Matrix von veranstaltungsthema-spezifischen Begriffen hat sich dabei eine generische Begriffs-Matrix etabliert, die bei den meisten Bildungstagungen funktioniert:

HarmoS Literacy Heterogenität KIM- / JIM-Studie
Bologna Gender- Informelles Lernen Lifelong Learning
Evaluation PISA Schulentwicklung Bildungsstandards
problem based konstruktivistisch vernetzt überfachlich

Die Tagungen enthalten nicht nur dieselben Schlüsselwörter, sie werden meist auch von den gleichen Leuten besucht. Diese Tagungstouristen haben bereits an den drei letzten Veranstaltungen gehört, wie wichtig es "angesichts der zunehmenden Informationsflut" (hier Bsp. mit Google, Wikipedia einfügen) sei, "Fragen zu stellen" statt Faktenwissen zu auswendig zu lernen.

Sowohl im Schweizer Jahr der Informatik als auch an verschiedenen medienpädagogischen und mediendidaktischen Tagungen hat mich deshalb das Gefühl beschlichen, wir würden Preaching to the converted (da stand mal: "Teaching to the converted": Ein Freudscher…) betreiben: Alle Anwesenden sind sich grundsätzlich einig, dass das Tagungsthema wichtig, aber in der allgemeinen Öffentlichkeit unterbewertet sei. In der Folge werden Empfehlungen und Resolutionen verfasst und publiziert, die dann bei der nächsten Tagung im besten Fall als Anknüpfungspunkt und Beweis der Relevanz des Tagungsthemas genommen werden. Im Normalfall kommt aber niemand dazu, sich mit den bereits bestehenden Dokumenten zu befassen, stattdessen resolutioniert und empfiehlt man weiter ins Blaue. Repeating history: Die Empfehlungen der letzten Jahre, wenn nicht Jahrezehnte im Bereich ICT und Informatik in der Bildung ähneln sich sehr. Neben dem Buzzword-Bingo liesse sich auch ein Resolutionen-Raten veranstalten, bei dem die Teilnehmenden erraten müssten, aus welchem Jahr eine Empfehlung bzw. Feststellung stammt.

Beispiel gefällig? Aus welchem Jahr stammt folgende Empfehlung?

Die Informatik [...] ist eine selbständige, [...] verbreitete Wissenschaft. Ihre Methoden lassen sich auf eine ganze Reihe von Wissensgebieten anwenden, unter denen mehrere unsere Schulprogramme betreffen. Die Verfasser des vorliegenden Berichts betrachten es deshalb als dringlich und wichtig, die Schüler der Oberstufe der Mittelschule in die Informatik einzuführen.

Somit scheint mir diese Gefahr des Ein-Igelns nicht auf Knowledge-Blogs beschränkt zu sein, wie dies Gabi Reinmann am Schluss ihres Vortrags im November in Karlsruhe erwähnt hat:

Freilich ist damit auch eine Gefahr verbunden, die ich am Ende nicht verschweigen will: So genial es ist, dem Information Overload auf diese Weise die Stirn zu bieten, so rasch kann sich auch der Effekt einstellen, in ein Monaden-Dasein zu verfallen: eingeigelt in sein Blog und dessen Blogroll und Leser, die sich gegenseitig zustimmen und auf die immer gleichen Fundstücke, Meinungen und News verlinken. Produktion ohne Rezeption außerhalb des eigenen Dunstkreises läuft sich irgendwann mal leer, was aus Sicht der Strukturgenese nicht verwunderlich ist.

So, dies war nun mein Unmut, mit der ich ebenfalls weder der Erste noch der Letzte sein werde. Doch was kann getan werden? Ein paar Gedanken, weder neu noch überwältigend:

  • Selektiver an Veranstaltungen gehen: Allem Networking zum Trotz werde ich in nächster Zeit vermutlich weniger an Veranstaltungen gehen und genauer hinschauen, wo Fokus und Niveau liegen könnten.

  • Präsenzphasen obligatorisch vorbereiten: Bei Veranstaltungen, an denen etwas neues geschaffen werden soll, müsste man zwingend eine virtuelle Vorbereitungsphase vorsehen. Die Teilnehmenden sollten wesentliche Dokumente, Erkenntnisse und Überlegungen bereits präsent haben, bevor sie selbst präsent sind. So erklären wir doch blended learning, warum tun wir's dann an unseren eigenen Veranstaltungen nicht?
    • Bei wissenschaftlichen Veranstaltungen: Paper den Teilnehmenden vorgängig zur Verfügung stellen
    • Bei politischen Veranstaltungen: Lektüre bisheriger relevanter Resolutionen von Teilnehmenden verlangen

Weitere Vorschläge sind willkommen...


Lieber Beat,

was Du berichtest, kommt mir aus dem Bereich "frühkindliche Bildung" sehr bekannt vor. Auch hier: Tagungen mit immergleichen Beiträgen, Buzwword-Bingo wäre nach dem ersten Referat vermutlich gelaufen (leider fehlt die digitale Vernetzung wink und gleichwohl tut sich de facto wenig bis nichts, weil die politischen Umstände ja sowas von ungünstig sind.

Ich frage mich: Ist das ein modernes Phänomen der Informationsgesellschaft (=viel Information, wenig Aktion)? smile

-- MelanieBolz - 27 Nov 2008


Salü miteinander

Ich möchte das gern noch nuancieren. Meine Intention an der UNM-Tagung war ja gerade, die Diskussion von der Schulebene auf die Ebene der bildungspolitischen Diskussion zu führen. Allerdings ist das natürlich ohne Schlüsselbegriffe und ohne Darstellung (tatsächlich bereits bekannter) Sachverhalte möglich… LG Thomas

-- ThomasMerz - 27 Nov 2008


Genau die gleichen Phänomene beobachte ich auch in meiner Sphäre: der Nachhaltigkeits-"Szene".

Und ich denke tatsächlich, dass wir einerseits froh sein können, in dieser Informarmationsgesellschaft zu leben, wir aber andererseits auch Haltungen resp. Selbstmanagement-Techniken lernen müssen, damit wir in der Flut nicht ersaufen, sondern auch mal das Land / festen Boden erreichen und selber wieder Schritte machen können.

-- RetoStauss - 27 Nov 2008
 
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