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Et voilà ein erster Zeitungsartikel zu Imre Kertés - übrigens ein sehr empfehlenswertes Buch!!! Guss Nicole

Hier findet ihr noch eine Liste der Nobelpreistäger: inkl. Bilder, Infos zum Autor, ... http://www.nobel.se/literature/laureates/index.html

Die Harmlosigkeit des Grauens

10. Okt 2002 22:10

Mit Imre Kertész hat ein Autor den Nobelpreis für Literatur erhalten, der den Holocaust als einzig möglichen Ausgangspunkt einer Kultur begreift, deren Werte durch ihn zerstört wurden. Sein «Roman eines Schicksallosen» spricht absichtlich auf naive Weise von diesem «ethischen Nullpunkt».

Von Manuel Karasek und Ulrich Gutmair Nachdem die königlich-schwedische Akademie, die jeden Herbst einen Nobelpreisträger für Literatur bekannt gibt, im letzten Jahr eine vor allem aus der Sicht der Kulturredakteure glückliche Wahl mit V. S. Naipaul getroffen hatte, löste die Entscheidung der Jury am Donnerstag nicht nur Glücksgefühle im Literaturbetrieb, sondern wohl auch bei den Lesern weltweit aus. Der ungarische Autor Imre Kertész erhielt die Auszeichnung vor allem für sein Hauptwerk «Roman eines Schicksallosen».

Ungarischer Schriftsteller erhält Nobelpreis für Literatur

In diesem Roman erzählt der 1930 in Budapest geborene Schriftsteller jüdischer Herkunft die Geschichte eines fünfzehnjährigen Jungen, der die Deportation nach Auschwitz erlebt und im KZ Buchenwald die letzten Monate des Terrors und des Krieges überlebt. Das Buch schildert die perfiden Mechanismen der Vernichtungsmaschinerie aus der naiven Sicht eines parsifalähnlichen Helden, der erst Schritt für Schritt die minutiös geplante und industriell durchgeführte Massenvernichtung durch die Nationalsozialisten begreift.

Holocaust ist ein Deckname

Das Erstaunliche an diesem Kunstgriff ist, dass jedes Geschehen völlig vorurteilslos, und damit urteilslos beschrieben wird: Es gibt in diesem Buch keine einfache Trennung zwischen Gut und Böse, es gibt keine schlichte Rechnung in der Art, dies oder jenes hätte man wissen oder verhindern können, es gibt nicht wie in der Fernsehserie «Holocaust» oder Steven Spielbergs Film «Schindlers Liste» böse Nazis und gute Juden. Kertész hält sich von den herrschenden Sprachregelungen fern, die seiner Ansicht nach heute gerade die Überlebenden des Terrors ausschließen.

Er glaubt, die unerträgliche Last des Holocaust habe «nach und nach Sprachformen der Rede über den Holocaust ausgebildet, die scheinbar vom Holocaust handeln, indes sie seine Wirklichkeit nicht einmal berühren. Ist doch schon das Wort 'Holocaust' selbst für die tägliche Massenmord-, Vergasungs-, Erschießungsroutine, die Endlösung, die Menschenvernichtung ein fast sakraler Deckname.» Ursache hierfür seien Erklärungsmodelle, die sich im haltlosen Rückgriff auf einen europäischen Humanismus, der gerade in den Vernichtungslagern zerstört wurde, einer alten Sprache bedienten, die nach Auschwitz nicht mehr greifen könne.

Die Kühnheit eines Werks

In «Roman eines Schicksallosen» gelingen Kertész bewegende Ungeheuerlichkeiten. So schreibt er etwa vom «Glück», das sein Protagonist im KZ empfindet: «Ich möchte noch ein bisschen leben in diesem schönen Konzentrationslager,» heißt es da tatsächlich. Wird uns hier nicht das Schicksal eines Menschen geschildert, der geschlagen und gedemütigt wird, der Hunger und Folter erleidet? Das an Proust gemahnende Glücksgefühl, von dem im Roman die Rede ist, bezieht sich unter anderem auf die kurzen Augenblicke, in denen der Protagonist nicht geschlagen wird, in denen er eine Brotkrume zu Ende essen kann.

Mit «Roman eines Schicksalslosen» erhält man wie in den Büchern Jorge Sempruns oder Primo Levis Einblick in das fürchterliche Geschehen der Lager, in die komplette Entwürdung und Entmenschlichung des Menschen. «Die unerhörte Kühnheit seines Werkes hat mit der Eitelkeit der Avantgarden nichts gemein; sie gründet überhaupt nicht in irgendeinem Kunstwollen, in irgendeiner Ästhetik, irgendeiner Theorie. Sie rührt daher, dass Imre Kertész buchstäblich nichts anderes übriggeblieben ist; sie muss für ihn eine Frage des Überlebens nach dem Überleben gewesen sein,» hat Hans Magnus Enzensberger über ihn gesagt.

1975 beendete Kertész nach 13 Jahren Mühe die Arbeit an diesem Werk. Er hatte lange nach der richtigen Form und der geeigneten Sprache gesucht, um die ihm widerfahrenen Geschehnisse zu schildern. Aus vielen Beispielen wusste er, dass in den meisten Texten, die das Thema behandeln, ein wilder Anklageton vorherrschte. Er wusste, dass es die kitschige Darstellung des Grauens und der Vernichtung gab. Zwischendurch hatte er den Eindruck, sein eigener Stil wäre wie Mondstaub, so trocken kam er ihm vor, erzählte er später. Aber es ging ihm darum, gerade die Sichtweise seines fünfzehnjährigen Ich-Erzählers so glaubwürdig wie möglich zu schildern.

Groteske Vergrößerung

Man soll diesen Jungen sehen, wie er in Auschwitz ankommt. Er schaut aus dem Fenster und sieht ein Fußballfeld. Prima, denkt er, hier kann ich mit meinen Freunden Fußball spielen. Dann bemerkt er die «Sträflinge», die die Leute aus dem Zug jagen. Der Junge ist ein klein wenig erschrocken, denn jemand, der eine Sträflingskluft trägt, der muss auch etwas verbrochen haben. Noch später steht er vor der Selektionsrampe. Er wird nach rechts aussortiert, was nicht Gaskammer, sondern Arbeitslager heißt. Aber der Junge weiß das noch nicht. Nein, er jubelt mit seinen Freunden, als würden sie sich in einem Ferienlager befinden. Als würde der Arzt, der eigentlich über Tod und Leben entscheidet, mit seiner Links-rechts-Entscheidung erklären: Die einen spielen für unseren Fußballverein und die anderen müssen in der Werkstatt Heimarbeit machen.

Diese Harmlosigkeit, die das Grauen so grotesk vergrößert, so dass erst durch diesen Trick dessen absurde Wirklichkeit sichtbar wird: Eben dies ist der wirklich große Kunstgriff dieses Schriftstellers. Der Leser lacht womöglich über diesen schwarzen Humor. Der Leser leidet wegen der grauenvollen Art und Weise, wie Menschen massenweise betrogen, vorgeführt und ermordet werden. Der Leser schreit dem Jungen zu: Ja, siehst du denn das Unglück nicht?

Kein Ort für den Überlebenden

Nachdem dieser Junge Auschwitz und Buchenwald erfahren hat, nachdem er befreit worden ist, kehrt er in seine Heimatstadt Budapest zurück. Er hat jetzt begriffen, was mit ihm passiert ist. Da trifft er in der Straßenbahn einen Journalisten, der ihn fragt, was er jetzt fühle. Ohne abzuwarten, antwortet er: «Hass.» Der Journalist erschrickt. Wen er denn hasse, fragt er. Und wieder kommt die Antwort, ohne Pause, ohne Zwischenraum: «Alle.» Dies ist der zweite meisterliche Kunstgriff des Autors, seine Leser in die Rolle des Journalisten zu drängen. Wir sind diejenigen, die das Geschehen vierhundert Seiten lang verfolgt haben. Wir sind diejenigen, die in naiver Arroganz nach Absolution verlangen, und dies gerade von den Opfern.

Heute spricht Kertész oft von seiner Situation als Überlebender, von der Freiheit der Selbstbestimmung und der Sprache. Man fühlt sich an die Beobachtungen Frantz Fanons erinnert, wenn Kertész über sein gegenwärtiges Leben in Ungarn, und den dort weiter schwelenden Antisemitismus erklärt: «Man empfindet seine Umgebung beispielsweise auf einmal als Spuk, dabei ist man selbst es, der zu etwas Irrealem, zum Spuk geworden ist. Oder umgekehrt: Man empfindet sich selbst auf einmal als ein fremdes Wesen, dabei hat man sich nur mit der entfremdeten Außenwelt identifiziert,» so Kertész vor einigen Wochen in Berlin. Er weist damit auf einen Umstand der sprachlichen Prä-Selektion hin, der allzuoft vergessen wird und auch in den historischen Darstellungen nur selten berücksichtigt wird: Niemand hat diejenigen, die von den Nationalsozialisten als «Juden» klassifiziert wurden, jemals danach gefragt, ob sie welche sein möchten.

Vom «ethischen Nullpunkt» aus handeln

Eben diese Zuschreibung ist es, die Kertész im Kern des Rassismus erblickt: «Der Rassist – denn nach Auschwitz ist der Antisemitismus nicht mehr nur Antisemitismus – will von mir, dass ich zuerst Jude bin und dann kein Mensch mehr sein kann. ... Die niedere Denkungsart, gegen die man sich wehrt, führt dazu, dass man am Ende beginnt, auch selbst niedrig von sich selbst zu denken, ja, dass man es gar nicht mehr selbst ist, an den man denkt, sondern ein anderer; in diesem Prozess wird unsere Persönlichkeit also beschädigt. ... In einer rassistischen Umgebung kann ein Jude nicht nur nicht Mensch sein, er kann auch nicht Jude sein; denn 'Jude' ist allein für die Antisemiten ein eindeutiger Begriff.»

Mit Kertész hat schließlich auch ein Autor den Nobelpreis für Literatur erhalten, der den Holocaust heute «als globale Erfahrung, als europäisches Trauma» betrachten will: «Es wird zu einer Existenzfrage für diese Zivilisation werden, ob dieses Trauma in Form von Kultur oder Neurose, in konstruktiver oder destruktiver Form, in den Gesellschaften Europas weiterlebt.» In den Flammen der Öfen sei das zerstört worden, was man vorher als europäische Werte bezeichnet hat. An diesem «ethischen Nullpunkt» erweise sich «als einziger Ausgangspunkt gerade das, was diese Finsternis erzeugte: der Holocaust.»

-- JeanninePeyer - 28 Nov 2002
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