Der Konstruktivismus ist zunächst einmal eine Erkenntnistheorie, die die Erkenntnisse verschiedener wissenschaftlicher Disziplinen wie Hirnforschung, Neurobiologie, Kognitionspsychologie, Linguistik und Informatik miteinander verbindet.
Die Grundlage der Theorie ist die Tatsache, daß das menschliche Gehirn als relativ geschlossenes und sich selbst organisierendes (autopoetisches) informationsverarbeitendes System zum allergrößten Teil seiner Aktivitäten mit sich selbst beschäftigt ist und nur zu einem geringen Teil mit der Verarbeitung von Informationen oder Reizen aus der Außenwelt. Diese Informationen der Außenwelt wie z.B. Töne oder visuelle Eindrücke bieten, durch die Sinnesorgane aufgenommen, dem Gehirn keine Informationen darüber, wie die Dinge der Welt sind, sondern dienen nur als Rohmaterial, das vom Gehirn erst interpretiert und verstanden wird. Wir hören eine Musik nicht mit unseren Ohren, sondern unsere Ohren nehmen Schallwellen wahr, setzten sie in einfache elektrische Impulse um und leiten sie an das Gehirn weiter, das aus diesen Impulsen erst die Musik werden läßt. Der Musikeindruck wird also erst im Gehirn erzeugt und nicht von den Sinnesorganen aufgenommen.
Die wesentliche Leistung des Gehirns besteht also darin, die von den Sinnesorganen übertragenen Impulse aus der Außenwelt permanent zu interpretieren. Dabei schafft es sich seine Konstruktion davon, wie denn die Welt sei, ohne zu wissen, wie sie wirklich ist. Was wir wahrnehmen sind immer nur unsere Erfahrungen von den Dingen, nicht die Dinge selber. Etwas verstehen heißt in diesem Sinne, eine Interpretation aufzubauen, die funktioniert und schlüssig zu sein scheint. Diese strukturierende Arbeit des Gehirns hat den Zweck, dem Individuum das Überleben in seiner Umgebung zu ermöglichen.
Diese Vorstellungen sind nicht neu, sondern in der Vergangenheit schon von Vico, Comenius, Montessori, Kant und Piaget vertreten worden. Neu sind nur die physiologischen Entdeckungen der Hirnforschung der letzten Jahre, die diese Vorstellungen zu bestätigen scheinen.
Für das Lernen heißt dies, daß Lernen kein passives Aufnehmen und Abspeichern von Informationen und Wahrnehmungen ist, sondern ein aktiver Prozeß der Wissenskonstruktion. Etwas lernen heißt, das Konstrukt im Kopf zu überarbeiten oder zu erweitern. Es heißt, sich aktiv und intensiv mit dem Lerngebiet auseinanderzusetzen. Außerdem ist Lernen ein individueller, selbstgesteuerter Prozeß, der je nach Vorkenntnissen und -erfahrungen sehr unterschiedlich ausfallen kann.
In letzter Konsequenz heißt dies aber auch, daß die Vermittlung von Lernstoff oder Wissen im Sinne einer Übertragung nicht möglich ist. Ein Lehrer oder computerunterstütztes Lernsystem kann immer nur den Konstruktionsprozeß des Gehirns anregen, fördern und ihm helfen, das Wissen selbst zu erwerben.
© Frank Thissen 18.3.2002