Herr Naumann, Sie wurden 1939 in München geboren. Können Sie sich an Bombenangriffe erinnern?
Klaus Naumann: Leider sehr lebhaft, obwohl ich erst fünf war. Aber meine Mutter hatte den Fehler gemacht, uns zu erzählen: Die pflanzen Christbäume, bevor sie Bomben abwerfen. So stahlen sich ein Freund und ich während eines Fliegeralarms aus dem Luftschutzkeller, weil wir die Christbäume sehen wollten. Wir standen auf der Straße, als das Haus gegenüber getroffen wurde. Erst von einer Sprengbombe, die die Fenster zertrümmerte und das Dach abdeckte, dann von einer Brandbombe. Wir sahen auch die Christbäume – Leuchtfackeln, mit denen die Bomberstaffeln ihre Zielquadrate absteckten. Das Haus stürzte zusammen, und die Leute liefen brennend heraus. Dieses Bild der schreienden Menschen vergisst man nie. Was ich allerdings auch nie mehr vergessen habe, ist die Tracht Prügel, die ich bezog, nachdem meine Mutter uns gefunden und in Sicherheit gebracht hatte.
Ist über die Bombennächte geredet worden?
Naumann: Ich habe später diese Geschichte erzählt, wenn ich meinen englischen und amerikanischen Bündnispartnern beibringen wollte, dass wir die taktischen Atomwaffen – also jene, die von Geschützen verschossen werden – aus Deutschland abziehen sollten. Ich wollte den Amerikanern veranschaulichen, dass es einen gewaltigen Erlebensunterschied zwischen ihnen und uns gibt. Das ist der Krieg auf eigenem Boden. Etwas, was sie seit 1813 nicht mehr erlebt haben.
In diesen Tagen jährt sich die Schlacht um Stalingrad zum 60. Mal – ein Mythos des deutschen Untergangs, der Anfang vom Ende des Dritten Reichs. Warum, Herr Friedrich, ist diese mehrere tausend Kilometer entfernte Stadt im Bewusstsein der Deutschen haften geblieben, aber nicht die Zerstörung Hamburgs ein paar Monate später?
Jörg Friedrich: Als ich jung war, wurde Stalingrad als ein verbrecherischer Durchhalte-Befehl von Hitler gewertet. Man hat diese Armee als verheizte Truppe betrachtet, die besser kapituliert hätte.Also als Opfer?
Friedrich: Sie hätte immerhin kapitulieren können. Das konnten die 8000 Kinder, die in Hamburg verbrannten, nicht. Man kann nämlich nicht gegenüber einer Luftflotte kapitulieren. Außerdem sah die englische Strategie des moral bombing, der moralischen Kriegsführung, etwas anderes vor: Es sollte so lange gebombt werden, bis die Arbeiter etwas machten wie im November 1918, eine Revolution. Warum da zweierlei Erinnerung besteht, hängt, glaube ich, mit der Bündnissituation des Kalten Krieges zusammen. Es gab ein wohlverstandenes Interesse, sich die Gräuel des Zweiten Weltkriegs wechselseitig nicht vorzurechnen. In diesem Sinne ist der Luftkrieg nicht mehr Thema gewesen. Im Unterschied zu Stalingrad, den Vertreibungen oder der Vergewaltigung von 1,3 Millionen Frauen, denn sie bestätigten ein Feindbild, das schon vor 1955 existierte. Das Bild brennender Zivilisten, die aus Häusern laufen, war mit dem Bild der Briten und Amerikaner, die uns schützten, ernährten und den Rechtsstaat brachten, schwer zu vereinbaren. Zeitgeschichte braucht Zeit.
Ihr Buch, „Der Brand", über den alliierten Bombenkrieg von 1940 bis 1945, ist in wenigen Wochen über 100000 Mal verkauft worden. Ist die Zeit jetzt reif?
Friedrich: Wenn ich mir die britischen Reaktionen auf mein Buch anschaue, bin ich skeptisch. Die Bombardements werden nach wie vor als militärische Notwendigkeit gerechtfertigt.
Naumann: In Gesprächen mit den Alliierten sind diese Dinge allerdings nicht unterdrückt worden. Dass ihr Wirken, dem wir unterm Strich viel mehr Gutes verdanken, auch Narben hinterlassen hat, wurde keineswegs verschwiegen. Als Generalinspekteur lud ich den NATO-Militärausschuss einmal nach Dresden ein. Dort, in der Schlossruine, fand unser Abendessen statt. In einem Betonsaal. Es gab kein elektrisches Licht, nur Kerzen waren aufgestellt. Bei der Tischrede habe ich gesagt, dass wir, die wir hier heute als Partner und Freunde sitzen, nicht vergessen können, dass die Bombardierung Dresdens in meinen Augen ein Verbrechen war.
Friedrich: Dresden symbolisiert den Luftkrieg. Aber es kaschiert ihn auch, weil eine mehrjährige Kampagne geronnen ist auf einen einzigen Angriff. Das Modell dieses Angriffs war der Angriff auf Darmstadt. Es war die gleiche bomber group No. 5, die mit derselben Flugtechnik des so genannten Fächers die Markierung und Sättigung eines engen Stadtgebietes mit Brandstoffen bewirkte.
Man zerbombte also eine Stadt, weil sie einen Flammenherd darstellte?
Friedrich: Diese Form des Brandangriffs war im März 1942 in Lübeck ausprobiert worden. Als Modell diente dem Chef des Bomber Command, Harris, übrigens Coventry.
Die Briten kopierten deutsche Luftangriffe?
Friedrich: Harris war ein begeisterter Anhänger der in Coventry gezeigten Kunst, eine Stadt zu entzünden. Denn das ist äußerst schwierig. Ist für Sie akzeptabel, dass Ihre Gesprächspartner diese Bombardierung bis heute als militärisch notwendige Aktion verteidigen?
Naumann: Unter den Soldaten, mit denen ich zu tun hatte, hat sich das Verständnis gewaltig verändert. Es gibt heute nur noch einige wenige, die einer exzessiven Nutzung von Luftmacht das Wort reden. Es ist Konsens, die fast unbegrenzte Zerstörungskraft moderner Streitkräfte nur so anzuwenden, dass das strategische Ziel erreicht und der Schaden für die Zivilbevölkerung begrenzt wird. Denn wir müssen uns unter Umständen vor Gericht verantworten.
Friedrich: Ich halte es für normal, dass im Kriege nicht anders als im Zivilleben Übertretungen des Rechts stattfinden. Warum sollten da, wo getötet wird, Kriegsverbrechen eine Anomalie sein?
Naumann: Aber es muss die Bereitschaft der Krieg führenden Länder geben, diese Übertretungen zu ahnden.
Friedrich: Ja, aber wenn es nicht um die Zerstörung einer einzelnen Stadt, sondern um eine fünfjährige Praxis geht, handelt es sich nicht um ein Kriegsverbrechen, sondern – wenn ich Ihrer Logik folge – um eine verbrecherische Kriegführung.
Naumann: Ich kann dazu nur sagen, dass ich meinen Namen niemals dazu hergeben würde, einen solchen Angriff in die Wege zu leiten.
Friedrich: Aus rechtlichen oder aus moralischen Gründen?
Naumann: Aus beiden. Ich halte es schlicht für unvertretbar, einen Krieg gewinnen zu wollen, indem man das Zivilpotenzial des Gegners zerschlägt.
Friedrich: Auch wenn die militärische Notwendigkeit dafür spräche?
Naumann: Das Ziel der Strategie in einem Krieg – und ich beziehe mich da auf Clausewitz – ist, die Machtmittel eines Staates zu lähmen, also sein Militär, seine Wirtschaft. Dafür muss ich nicht die Zivilbevölkerung durch Terrorangriffe zum Aufstand anstacheln – was in Nazi- Deutschland ja auch gescheitert ist. Der Durchhaltewille der Deutschen ist keineswegs gebrochen worden.
Friedrich: Glauben sie, dass sich die Engländer, wenn man ihnen 1939 gesagt hätte, sie würden im Februar '45 einen Angriff gegen eine weit von der Front liegende Uhrmacherstadt wie Pforzheim fliegen, bei dem von 63000 Einwohnern 20000 starben, dass man sich im britischen Luftfahrtministerium eine solche Barbarisierung der Kriegführung vorstellen konnte?
Naumann: Ich glaube nicht.
Friedrich: Aus der Spiralwirkung der Gewalt können Prozesse hervorgehen, die ursprünglich niemand gewollt hat. Man hatte ja einen Konflikt, der so wie der Zweite Weltkrieg um Sein oder Nichtsein ging, vorher noch nicht erlebt. Es gab eine bemerkenswerte deutsche Stimme vor dem Kriegsverbrechertribunal in Nürnberg 1949. Damals argumentierten die deutschen Generäle, unter anderem der Generaloberst Reinhardt, der sich bei der Heeresgruppe Mitte scharfer Partisanenangriffe zu erwehren gehabt hatte, dass in der Tat eine Zivilvernichtung gegen Partisanendörfer stattgefunden habe. Es seien Vergeltungserschießungen durchgeführt worden, bei denen jeder zehnte Einwohner füsiliert wurde. Und er sagte einen logisch bestechenden Satz: Hätten wir mit unseren Maschinengewehren nicht horizontal das Dorf und jeden Zehnten vernichtet, sondern vertikal aus der Luft zugeschlagen und nicht jeden zehnten, vielmehr jeden dritten Bewohner getötet, dann stünde ich ja wohl als Kriegsverbrecher nicht hier. Was war verkehrt: die Zivilvernichtung oder die Schussrichtung? Das Gericht sagte: Das müssen wir hier nicht entscheiden. 60 Jahre später gilt die deutsche Kriegsführung in Russland als zutiefst barbarischer Vernichtungskrieg. Doch in Anbetracht von Reinhardts unbeantworteter Frage müssen wir darüber nachdenken, ob wir mit unserem wohl abgespeicherten Geschichtsbild den Gedanken verkraften können, dass auch die Gegenseite einen Vernichtungskrieg geführt hat.
War er das? Die Alliierten wollten das deutsche Volk doch nicht auslöschen.
Friedrich: Die Wehrmacht wollte die russische Bevölkerung auch nicht auslöschen. Allein schon darum, weil man sie versklaven wollte. Mich beschäftigt die Frage: Stehen diese beiden Formen von Vernichtungskrieg – und das Wort hat Churchill selbst ausgesprochen – in einem inneren Zusammenhang des „totalen Krieges"? Ist die Vernichtungsenergie der Wehrmacht etwa bei der Belagerung von Leningrad, wo es über eine Million Hungertote gab, mit der Belagerung deutscher Städte aus der Luft zu vergleichen? Leningrad konnte so wenig aufgeben wie Pforzheim, Darmstadt, oder Münster. Die Bevölkerung ist eine Geisel.
Naumann: Ich würde eine Unterscheidung machen zwischen dem Russlandfeldzug und dem, was sich auf den übrigen Kriegsschauplätzen abspielte. Weil sich die Kriegsziele unterschieden.
Friedrich: Und die Kriegsmittel?
Naumann: Der Krieg im Westen hat eine andere Qualität. Hier ist etwas eingetreten, was man in der Menschheitsgeschichte bei Konflikten häufig erlebt hat, dass die Gewalteskalation sich ungebremst weiter entwickelte. Da ist eine Verrohung eingetreten, für die die Deutschen den Ausgangspunkt lieferten und die dann von den Briten überboten wurde. Was man hinterher beklagen muss, ist, dass von Seiten der Briten eine Vernichtung der deutschen Zivilbevölkerung systematisch im Mittelpunkt der Kriegsführung stand. Ich habe meine Zweifel, dass man das rechtfertigen kann.
Hatte Churchill, den England bis heute als Kriegsheld verehrt, eine Alternative?
Naumann: Vielleicht war er nur ein Getriebener, der keinen anderen Ausweg wusste.
Friedrich: Auf Flugblättern, die aus den Bombern geworfen wurden, stand: „Befreit Euch von Hitler!" Das hieß: Wir töten euch so lange, bis ihr Hitler tötet. Nur dort, wo die Flugblätter landeten, standen Hitler und Freisler mit der Guillotine. Und sie richteten 15000 Deutsche hin, die diese Form des Krieges leid waren, als „Wehrkraftzersetzer". Selbstverständlich gab es eine Alternative zu Würzburg, das innerhalb von 17 Minuten verbrannte, obwohl aus dieser Stadt heraus keine Kriegshandlungen erfolgten. Der Höhepunkt der Bomber-Offensive war erst zwischen Januar und Mai 1945. Da starben pro Tag im Durchschnitt 1023 Zivilpersonen, 123000 Todesopfer insgesamt. Die Hälfte der Ziviltoten starb zu einer Zeit, da die Front bereits die Reichsgrenzen erreicht hatte. Sie stand in Aachen und an der Mosel. Der Bombenkrieg eskalierte unabhängig davon weiter.
Naumann: Als der Krieg strategisch bereits entschieden war.
Beim Endkampf im Ruhrgebiet wurde alles mit Bombenteppichen belegt, was eine mögliche Deckung hätte darstellen können. Die Alliierten wollten ihre Verluste reduzieren. Aus militärischer Sicht klingt das logisch.
Friedrich: Es gibt auch eine Logik der Barbarisierung. Das Eigentümliche an den taktischen Bombardements, die sich gegen die Versorgungswege und Depots der gegnerischen Truppe richteten, war nur, dass sie den Rest nicht verschonten. Man hatte, als im Frühjahr 1945 ein Rangierbahnhof in Hildesheim angegriffen wurde, durchaus die Möglichkeit, chirurgisch vorzugehen. Trotzdem wurde die ganze Stadt angesteckt. Man warf die gleiche Tonnage von Brandstoffen ab, die Flächenbrände erzeugen sollte. Es bestanden einfach keine Skrupel mehr. Das haben britische Geschichtsforscher mit Verwunderung festgestellt. Warum wurden diese taktischen Operationen auf präzise Ziele wie in meiner Vaterstadt Essen mit einer Million Stabbrandbomben unternommen? Mit denen ist kein Bergwerk, keine Stahlhütte zu zerstören. Es wurden keine Unterschiede mehr gemacht. Und ein Bewohner von Bonn wusste im Herbst '44 aufgrund der lodernden Stadt nicht, ob der Bahnhof oder seine Durchhaltemoral das Ziel sein sollte.
Können wir festhalten, dass der Luftkrieg kein geeignetes Mittel ist, ein Land zum Aufgeben zu bewegen?
Naumann: Vor dem Hintergrund der gegenwärtigen weltpolitischen Lage und meiner Erfahrungen aus dem Kosovo-Einsatz, würde ich sagen, es ist kein geeignetes Mittel. Jedenfalls nicht allein.
Im Kosovo hat diese Strategie funktioniert.
Naumann: Wir hatten Glück. Es fügte sich. Als Moskau Milosevic die schützende Hand entzog, muss ihm die Ausweglosigkeit seiner Lage so deutlich geworden sein, dass er einlenkte.
Sie meinen, man hätte unter Umständen noch Wochen weiter bomben müssen?
Naumann: Möglicherweise. Und es wurden bereits erste Überlegungen angestellt, ob man nicht doch mit Bodentruppen operieren sollte, was viele von uns von Anfang an gefordert hatten. Allein schon um Milosevic wirksamer einzuschüchtern.
Demokratische Staaten lassen immer seltener die Neigung erkennen, Bodentruppen einzusetzen. Sie greifen lieber auf ihre Kampfflugzeuge, Bomber oder wie jüngst auf bewaffnete Aufklärungsdronen zurück, um einen „sauberen Krieg“ zu führen.
Naumann: Postmoderne Demokratien verachten die Anwendung von Gewalt. Doch sie treffen immer wieder auf Machthaber, die Gewalt als Mittel der Politik begreifen. Wenn diese zwei Welten aufeinander treffen, gibt es nicht unbedingt einen friedlichen Ausgleich. Aber der Westen versucht, das Ausmaß an Zerstörung zu begrenzen.
Erschreckt es Sie nicht, wenn Piloten, wie im Golfkrieg; Bagdad als „Weihnachtsbaum" beschreiben, den die eigenen Raketen als „Wunderkerzen“ erleuchten?
Naumann: Den Jargon von Soldaten im Konflikt sollte man nicht als Maßstab für ihre Geisteshaltung nehmen. Denn dieselben Piloten, die nach Bagdad flogen, feuern acht Jahre später im Kosovo ihre Waffen nicht ab, weil sie wegen des schlechten Wetters die Bedingungen der Zielgenauigkeit nicht erfüllen. Stattdessen laden sie die Waffen auf dem Rückweg – sehr zum Ärger der italienischen Fischer – in der Adria ab.
Friedrich: Im Zweiten Weltkrieg fielen diese Waffen ersatzweise auf Köln. Das war am Rhein leicht zu finden.
Das Gespräch führten Kai Müller und Christian Schröder.
-- PhilippSchaufelberger - 25 Dec 2002